Gott kann man nicht erkennen durch die nach außen gerichteten Sinne, den Intellekt oder die Lebensströme, auch Pranas genannt. Nur die Seele kann Ihn erkennen - nur Gleiches kann Gleiches erkennen.

Sant Kirpal Singh

Die Notwendigkeit der Spiritualität

Von Sant Kirpal Singh, aus dem Buch "Spirituality – what it is", Kapitel 4


Wohin man sich auch wendet, begegnet man äußerster Spannung und Angst – überall herrscht Ungewissheit vor. Die Ursache dieses universalen Chaos ist die Ruhelosigkeit im Gemüt jedes einzelnen. Der Mensch hat auf verschiedenen Gebieten des Lebens kolossale Fortschritte gemacht, hat sich aber leider nicht darum gekümmert, etwas über den Geist im Innern zu erfahren und ist daher in dieser Hinsicht vollkommen unwissend. Er hat die Geheimnisse des gestirnten Himmels enträtselt, die Tiefen der Meere ergründet, er ist tief in die Abgründe der Erde eingestiegen, ist tapfer den blendenden Schneestürmen des Mount Everest begegnet und ist nun dabei, den Weltraum zu erforschen, um interplanetarische Beziehungen herzustellen. Doch es ist traurig, sagen zu müssen, dass er das Mysterium der menschlichen Seele in seinem Innern noch nicht enthüllt hat. Die Frage der Fragen hat er immer übergangen und ist den Kernfragen des Lebens, die sich auf die Selbst-Erkenntnis oder das Wissen vom Selbst beziehen, bedachtsam ausgewichen, als ob sie für ihn ohne Folgen seien.

Ein Mensch mag alle Reichtümer der Welt besitzen, aber wenn er gar nichts über seine eigene Seele weiß, so ist alles vergeblich. Der höchste Sinn allen Wissens ist, dass man sich Selbst erkennt. Ein Moslem-Heiliger sagte in diesem Zusammenhang:

Das Ein und Alles des Wissens ist nur eines:
Dass man den wirklichen Wert seiner Seele erkennt.
Du kennst den Wert von allem anderen, doch welche Torheit,
dass du deinen eigenen Wert nicht kennst.

Wie bedauerlich ist es, dass wir in allen Lebenslagen wunderbare Fortschritte machten, aber an der Selbst-Erkenntnis, in deren Licht und Leben wir wirklich leben und unser Sein haben, mangelt es uns. Aufgrund der Unkenntnis der lebendigen Wirklichkeit in uns ist es kein Wunder, dass wir uns selbst zu Toren gemacht haben.

Auch Christus sagte das Gleiche: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schanden an seiner Seele? (Matth. 16,26)

Ein Teil bleibt solange Teil, bis es in das Ganze eintaucht und seine eigene Individualität in seiner Quelle oder seinem Ursprung aufgeht. Ein Bergstrom gurgelt, tost und sprüht in seinem Lauf, bis er sich ins Meer ergießt. Genauso ist es auch mit dem individuellen Geist. Da er nichts über seine wesentliche Natur weiß, kennt er nicht einmal seinen eigenen Ursprung und so plätschert und schäumt er wie der Strom des Lebens sein steiniges Bett entlang, das mit großem Geröll und untergetauchten Felsblöcken durchsetzt ist. Die individuelle Ruhelosigkeit wird durch die Rastlosigkeit, die wir unter den Menschen der Erde finden, reflektiert. Der Mensch hat die große, grundlegende Wahrheit der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft der Menschen vergessen. Daher kommt all der Kampf zwischen Menschen, Klassen, Gemeinschaften und Ländern.

Die dringende Notwendigkeit der Stunde ist, der alten Wissenschaft der Spiritualität eine Neu-Orientierung zu geben und den Menschen zu sagen, wie sie ein spirituelles Leben führen können. Die gesamte Menschheit befindet sich in Unwissenheit. Die meisten Menschen der Welt führen ein rein egoistisches Leben und bereichern sich auf Kosten anderer. Aber zugleich stehen auch sie verwirrt zwischen zwei Mühlsteinen: Erstens der Wahrheit, die durch die Meister wissenschaftlich erklärt und gelehrt wird und zweitens den strengen Glaubensgrundsätzen oder verhärteten Restbeständen der Religion, die meist von unwissenden religiösen Fanatikern gelehrt werden. Die so genannten Lehrer und Prediger, die die irrende Menschheit richtig leiten sollten, sind selbst Opfer der großen Täuschung und wissen nicht, wo sie stehen und was sie tun müssen.

Die meisten von uns werden vom Zauber des äußeren Lebens, dem Leben der Sinne, gefesselt und unwiderstehlich angezogen und glauben tatsächlich an die epikureische Doktrin: Iß, trink und sei vergnügt! Wir haben Gott, die Essenz des ganzen Universums, überhaupt nicht nötig. Wir haben unseren Glauben an einer Nussschale befestigt und können den darin verborgenen Kern nicht sehen. Wir wollen die Schale schlucken und nicht den süßen, köstlichen Kern, den sie mit ihrer harten Hülle beschützt. Auch unsere so genannte Suche nach Gott betreiben wir auf der Ebene der Sinne, in der äußeren Welt. Wir suchen Ihn auf schneebedeckten Bergspitzen, in den Wassern heiliger Flüsse, im brennenden Wüstensand, in Tempeln, Moscheen, Kirchen – aber dort finden wir Ihn nicht. Je mehr wir Ihn im Äußeren suchen, desto mehr weicht Er uns aus. Er ist jetzt für uns nicht mehr erreichbar und wir haben allen Glauben an Ihn verloren.

 

O, ihr Sucher nach Gott!

Ihr habt Gott verloren.

Ihr habt Ihn im Strudel der Sinne verloren.

 

In solch einer traurigen Situation kommen Meisterseelen von Zeit zu Zeit in die Welt, um die irrende Menschheit zu leiten. Ihre Botschaft ist die der Hoffnung und nicht der Verzweiflung. Sie kommen nicht, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen – das Gesetz der Erlösung durch Gnade. Sie haben grenzenlose Liebe für alle Religionen und sagen kein Wort gegen sie. Auf der anderen Seite versuchen sie, alle Religionen gleichermaßen neu zu orientieren und frisches Blut in ihre blutarmen Teile zu übertragen, die verfallenden Nerven und Zellen wieder zu beleben, ihnen die Glut des Lebensimpulses einzuflößen und sie wieder auf die Höhe zu bringen, von der sie heruntergefallen sind. Sie geben lediglich die rechte Führung und weisen auf den rechten Pfad, der innen liegt und nicht außen, den Pfad, der der älteste (Sanatan) – genauso alt wie die Schöpfung selbst – und der der natürlichste (Sahaj) ist. Es ist der Pfad, den der Schöpfer selbst niedergelegt hat; er ist nicht vom Mensch geschaffen. Sie sagen uns, dass Gott existiert und dass alle Religionen, die vom Menschen geschaffen wurden, nur ein Ziel haben: Die Annäherung an Gott.

 

Das Wort Religion stammt von der lateinischen Wurzel ligare, mit seiner Ableitung ligament, das binden bedeutet. Die Vorsilbe re heißt wieder. So bedeutet also das Wort Religion, dasjenige wieder zu binden, was getrennt, abgesondert und gelöst wurde, d.h., die Seele mit der Überseele oder Gott – oder wie man die Quelle, den Ursprung allen Lebens auch nennen mag – wieder zu verbinden. Wahre Religion in diesem Sinne ist ein gemeinsames Erbe der Menschheit, und nur der ist wahrlich religiös, ein wahrer Bhagat oder Ergebener, ein wahrer Sikh oder Schüler, ein wahrer Mohammedaner oder ein wahrer Christ, der seine Seele mit der Gotteskraft im eigenen Innern verbunden hat. Die Erlöser sagen uns, dass der menschliche Körper der wahre Tempel Gottes ist, denn Gott schuf den Menschen nach Seinem Bilde. Der Geist (die Seele) und Gott (die Überseele) wohnen beide in diesem Körper, aber leider sind sie durch den eisernen Vorhang des Egoismus oder des selbst-behauptenden Willens im Menschen getrennt.

 

Zusammen wohnen die beiden,

nah beieinander im gleichen Raum.

Doch so seltsam es auch scheint,

sie haben niemals miteinander gesprochen.                        Guru Granth Sahib Gauri M.5

 

Mit anderen Worten ausgedrückt: Die Braut (Seele) und der Bräutigam (Gott) liegen im selben Brautbett, doch durch all die Zeitalter hindurch hat einer des anderen Gesicht nie gesehen.

 

In ein und demselben Bett liegt der Geliebte,

aber, o weh, die Braut schläft tief,

während der Gemahl die ganze Zeit über ihr wacht.           Guru Granth Sahib Subi M.5

 

Leider verlieren im Laufe der Zeit alle Religionen die ursprüngliche Idee aus den Augen und bilden nur noch einen Kodex für soziales Verhalten oder höchstens ein Kompendium ethischer und moralischer Prinzipien. Die Heiligen beachten die verhärteten Überreste der Religionen nicht, denn der Mensch muss sich notwendigerweise der einen oder anderen Gesellschaftsordnung anpassen und darin leben. Sie weisen auf das ursprüngliche, gemeinsame Ideal aller Religionen – den Inneren Pfad, der zu Gott führt – hin und sagen uns, wie Gott zu erreichen ist.